Der Edelhelfer darf daheim gewinnen
Als hätte es ein Drehbuch gegeben: Radprofi Marcus Burghardt holte in der Heimat sein erstes Meistertrikot. Einer seiner Wegbegleiter war besonders aus dem Häuschen.
VON THOMAS PRENZEL
CHEMNITZ - Die Kraft, um Töchterchen Lena Sophia auf dem Arm zu tragen, brachte Marcus Burghardt noch auf. Die Sechsjährige hatte das Privileg, den Papa nach dessen knapp fünf Stunden harter Arbeit im Rennsattel in die Arme zu schließen. Dabei wollten gestern Nachmittag gefühlt so ziemlich alle den Deutschen Meister im Straßenradsport herzen. Und ein besseres Drehbuch hätte es für diese Titelkämpfe in Chemnitz nicht geben können. Der Lokalmatador, der in seinen bisher zwölf Profijahren so oft für seine Kapitäne wertvolle Dienste leistete, durfte diesmal am Ende selbst jubeln – und das vor den heimischen Fans. Hand in Hand fuhren der 33-Jährige und Teamkollege Emanuel Buchmann bei tosendem Applaus auf die Ziellinie zu. Dann überließ Buchmann dem Mann des Tages die Heimparty.
Marcus Burghardt verdrückte ein paar Tränen im Ziel, als er von einem Gratulanten zum nächsten „geschoben“ wurde. „Das ist seit langem mein größter Erfolg. Ich habe zehn Jahre versucht, Meister zu werden. Ich war oft nah dran am Titel, bin 6., 4., 3. oder 8. gewesen. Dass es daheim geklappt hat, ist einfach Wahnsinn“, schwärmte der Tour-Etappensieger von 2008, der seit diesem Jahr für den bayerischen Rennstall Bora-hansgrohe aufsattelt.
Zwischen den Fanmassen versuchte der gebürtige Zschopauer eine Lücke zu finden, um den Teamkollegen für die perfekte Unterstützung zu danken. Von Runde eins an attackierten die Bora-Fahrer. Burghardt: „Wir wollten das Rennen schnell machen. Ich konnte mich am Anfang gut schonen. Ab der sechsten Runde waren dann Emanuel und ich gefragt. Am letzten Berg hatte ich schon Wadenkrämpfe. Aber ich wollte den Leuten an der Strecke, die mich riesig gepusht haben, unbedingt etwas zurückgeben.“
Von über 20.000 Zuschauern an der Strecke sprach Veranstalter Bund Deutscher Radfahrer (BDR). An besagter Bergwertung im Stadtteil Reichenhain kulminierte die Volksfeststimmung. Wimpelketten, Plüschtiere auf Holzbänken, die Fans mit Rasseln in Viererreihe, zum Großteil in Familie angereist, peitschten die Radrenner nach oben. „Das war schon fast wie bei der Tour. ,Emu‘ hat mir in der vorletzten und letzten Runde am Berg gut geholfen“, skizzierte Burghardt die entscheidende Phase. In der Schlussrunde überholten die Bora-Fahrer das Führungsduo John Degenkolb (Trek-Segafredo) und Roger Kluge (Orica-Scott), die als Einzelkämpfer ihrer Teams eine Zweckgemeinschaft gebildet hatten. „Genau zum schlechtesten Zeitpunkt, am steilsten Stück des Berges, konnte ich dem Tempo nicht mehr folgen“, gratulierte Degenkolb fair dem Meister.
Der Sachse freut sich nun doppelt auf seine neunte Tour de France, die einen Tag nach seinem 34. Geburtstag kommenden Sonnabend in Düsseldorf startet. „Ein Jahr lang dieses Trikot zu tragen, ist eine Ehre für mich.“ Teamchef Ralph Denk, mit dem der Erzgebirger im bayerischen Samerberg in einer Straße wohnt, gratulierte aus der Slowakei, wo er den Doppelsieg der Sagan-Brüder Juraj und Peter verfolgte: „Wir wussten, dass Marcus bei seinem Heimrennen sehr motiviert ist. Aber zwischen motiviert sein und gewinnen ist noch ein langer Weg. Mein Nachbar hat sich schon oft für die Mannschaft geopfert. Marcus hat diesen Sieg verdient. Und wir sind froh, dass unser Team zur Tour das Meistertrikot präsentiert.“ Auch für Buchmann gab es keine Diskussionen um den Ausgang des Rennens. „Marcus ist so ein superwichtiger Helfer für uns. Es war für mich keine Frage, dass er gewinnt, wenn wir so durchkommen“, beschrieb der Kletterspezialist die Teamarbeit, die im Radsport über allem steht.
Das weiß auch Klaus Fischer. Einer der ersten Übungsleiter von Marcus Burghadt beim RSV Venusberg ließ sich mit seinem Schützling feiern. Am Vortag hatten beide noch im Erzgebirge eine Trainingseinheit absolviert. „Das war eine Extramotivation, dorthin zurückzukehren, wo ich das Abc des Radsports erlernt habe“, erzählte Burghardt im Ziel und sah sich ständig von Selfie- und Autogrammjägern umringt.
Geduldig ließ sich der 1,89 Meter lange Profi fotografieren. Mittendrin Klaus Fischer: „Ich bin froh und glücklich, aber auch fix und alle – so wie beim Tour-Etappensieg 2008. Der Junge hat es sich wirklich verdient. Er war schon als junger Renner sympathisch und ehrgeizig“, erzählte Trainer Fischer. In jedem Fall muss er seinem ehemaligen Musterschüler so einiges beigebracht haben. Im Schnitt von 43,83 km/h absolvierte der Profi gestern die elf Runden in seiner Heimat. Und die Gratulationstour sollte danach kein Ende nehmen. Es war ein Genuss und eine angenehme Arbeit zugleich, die der neue Deutsche Meister genauso perfekt erledigte wie das Heimrennen zuvor.